Vorbemerkungen
Über die zweite Verwendung
von Paletten
Beim Malen eines Bildes entsteht
ein zweites. Farbreste nehmen auf der Palette feine, delikate Formen und
Töne an, ungezwungen und komplex; wuchern mit absichtsloser Pracht
zu schwammartigen Gestalten, Teichen. Haufen –
Taubengraue (und) kreiselnde
Schlieren, schwimmende Schatten; strebende Schleifen und Streifen, melodisch
ausschwingende Kraftschübe aus trockenerem Braun, hier und da Pinselwischer
in Tupfen von weißüberlagertem Gelb hinein und durcheinander.
Päpstliches Weiß & sternenlos; körniges (brüchiges)
Blauviolett: Aderwerk. Lichtblaue Durchblicke; klumpiges Karmin, schwarz-gerändert.
Geknetet, getrieben durch wurstigen Ocker: Fleisch=Ocker.
Und Azur.
Oder – was weiß ich:
Bäuche! und Brüste. Da liegen also plötzlich Plastizitäten
vor, Bäuche und Brüste. Schultern, flüchtige Schenkel(chen)
– Reste von Farben für Aktbilder bewahren das Motiv auf der Palette,
bieten aber neue Anatomien in seltenen und rätselhaften Verrenkungen
an. Das Auge folgt dem Spiel der Spuren; den Spuren eines Spiels, das sie
gruppenweise ordnet und zusammenfaßt und immer neue Partnerschaften
eingehen läßt. Der Verstand sucht sie zu deuten, indem er den
ausufernden Flecken deckungsgleich mit einem Gegenstand seiner Formerinnerung
findet und die Assoziation zu einem früher Gesehenen einstellt: Bäuchen,
Brüsten –
Wenn die Erinnerung voller
Löwen ist (oder Gurken oder Damen), wiederholen sich in den Mischspuren
unweigerlich Mähnen, Mäuler, Hüften; Gurken. Mit längerem
Nachsinnen steigen weitere, tieferliegende Assoziationen auf, schmelzen
die Vorstellungen von Damen ein für fremdere Gestalten aus etwas anderem
Guß. Wird aus der Mücke ein Elefant, noch zierlich (nach den
Maßen der Mücke), ist die bereits verflogen.
Der Gedanke folgt malerischen
Fakten, die ihn vorgeformt und zur Verfügung gestellt, das heißt:
zuvor besessen haben. Das Bild entsteht also nicht als Ausmalung eines
Gedankens, sondern als Verdichtung und Deutung seines materialen Ursprungs
auf der Palette; als Klärung des ursprünglichen Chaos; als Erzeugung
und Steigerung gedanklicher Spannung.
Bei Betrachtung der Palette
werden in dynamisch instabilen Prozessen zuerst Formbeziehungen deutlich;
nehmen in assoziativer Erhellung objekthafte Gestalt an, entschließen
sich in einem dritten Schritt zu motivischem Zusammenhang und semantischer
Atmosphäre. Dieser dreifache Überschlag in ein jedesmal intellektuelles
Hellerwerden ist beim Malen, eventuell auch später für den Betrachter
noch, als Abbau gespannter Ungewißheit erlebbar; als Aufbau inhaltlicher
Spannung.
So: ohne einen Plan: los=zumalen
ist ein Spiel mit dem psychochemischen Interesse an der Geschmeidigkeit,
mit der sich Vorstellungen und Beziehungen ergeben können, Bildmöglichkeiten
aus einer Menge veränderbarer Realitäten; komplizierte Schönheiten
(Scheußlichkeiten).
Kaffeesatzleserei; etruskisches
Stöbern im Gekröse. Resteverwertung bändelt mit den naturhaften
Eigentümlichkeiten der vorgefundenen Spuren an, findet in diesen ihre
Maßstäbe. Die bewußtlose Ästhetik der Palette bereitet
die stilistischen Eigenarten des Bildes vor, das auf ihr entstehen wird,
bestimmt die malerische Handschrift mit und bindet sie dicht an den primitiven
Charakter des Verteilens von formbarem Material auf der Fläche.
Das noch unsichere Bild
kann in verschiedene Richtungen fortgeführt: klarer, geschlossener
werden oder offener bleiben für konkurrierende Deutungen. Diese Offenheit
– Unfertigkeit im konventionellen Sinn – kann den Betrachter mit einem
assoziativen Bild=Erleben konfrontieren und ihn dazu bringen, die eigene
Phantasietätigkeit als Wahrnehmungsmotor zu
akzeptieren; in der Verunsicherung
von Wahrnehmungsgewißheit eine Vervielfältigung der Deutungsmöglichkeiten
zu erfahren.
Die Spannung des „offenen
Bildes“ ist beim Malen um so stärker, je länger die Formen von
gegenständlichen Festlegungen verschont bleiben und je länger
der Moment hinausgezögert wird, in dem sich die schlüssige Vorstellung
bildet und inhaltliche Bezüge wie von alleine erscheinen.
Diese Art des Malens wird
angetrieben von der Lust am Chaos und von der gleichzeitigen Unzufriedenheit
mit ihm; und von der Entdeckung, wie etwas entsteht, das vorher nirgends
als in Denkmöglichkeiten existiert hatte; dieses Gebilde während
der Arbeit sichtbar und für den weiteren Prozeß wirksam werden
zu sehen. Realität, die so aus dem Malprozeß erwächst,
ist seinem ästhetischen Gelingen weitgehend identisch.
Dem Doktor und seiner Braut
hätte mit wesentlich geringerer Mühe ein menschliches Wesen gelingen
können; Frankenstein hat sich aber darangemacht, eines aus Vorhandenem
zusammenzufügen. So ein romantisch zerrissenes – oder technisch: Collage.
Die meisten der im Katalog
abgebildeten Arbeiten sind auf Leinwänden entstanden, die vorher als
Paletten zum Anmischen der Farben früherer Bilder gedient hatten.
Jedes fertiggestellte Paletten=Bild hat die Konkurrenz einer Menge ebenso
möglich gewesener Bilder überstanden. Die gewählte Variante
zu realisieren löst das Nebeneinander bestehender Möglichkeiten
ab und den Zustand des Potentiellen weitgehend auf. Im skizzenhaften offenen
Bild sind noch Reste des Potentiellen erhalten; als Hintergrundstrahlung,
Hinweis auf die verworfene Alternative, auf den Entstehungsprozeß
und die einmal bestandenen Verlustmöglichkeiten.
K.R.
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